Die Entdeckung der RNA-Interferenz

Nobelpreis für Medizin 2006

Im Oktober 2006 erhielten die US-amerikanischen Forscher Andrew Z. Fire und Craig C. Mello für die Entdeckung der RNA-Interferenz den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Da ich im vergangenen Sommer Gelegenheit hatte, an einem Projekt in diesem Bereich mitzuarbeiten, war ich über diese Entscheidung des Nobel-Komitees natürlich besonders erfreut. Im Folgenden möchte ich für alle interessierten Medizinstudenten erläutern, worum es sich bei der RNA-Interferenz handelt.

Die Bedeutung der RNA

Bekanntlich ist die im Zellkern lokalisierte Desoxyribonukleinsäure (DNA) Träger der Erbsubstanz. Von dieser DNA werden mit Hilfe von speziellen Enzymen (Polymerasen) Abschriften erstellt ("Transkription"). Bei diesen Abschriften handelt es sich um RNA-Moleküle. Gemäß der Schablone der so genannten Messenger-RNA (mRNA) werden dann Eiweiße (Proteine) geformt, welche im Körper schließlich verschiedene Funktionen ausüben, sei es als Strukturproteine oder als Biokatalysatoren (Enzyme). Letzterer Prozess wird auch "Translation" genannt.

Lange Zeit galt es als zentrales Dogma der Molekularbiologie, dass DNA stets in RNA umgeschrieben werde und die RNA schließlich in Proteine - und nicht umgekehrt. Man nahm an, dass die RNA eine reine Mittlerfunktion ausübe, weil es anscheinend nicht möglich war, DNA direkt in Proteine zu transkribieren (wahrscheinlich aufgrund ihres Doppelstrang-Charakters; mRNA ist hingegen einsträngig). Doch inzwischen musste dieses Dogma längst aufgegeben werden, weil es sich herausgestellt hat, dass es nicht den Tatsachen entspricht. Abgesehen von der Erkenntnis, dass es Retroviren wie etwa das Human Immunodeficiency Virus (HIV) gibt, welche über ein Enzym namens Reverse Transkriptase verfügen, das in der Lage ist, RNA wieder in DNA zurückzuverwandeln, hat man auch entdeckt, dass RNA in der Zelle weitere Funktionen ausübt. So gibt es etwa eine andere spezielle Sorte RNA, die Transfer-RNA (tRNA), welche dafür zuständig ist, die für die Translation benötigten Aminosäuren herbeizuschaffen. Eine weitere RNA-Form ist die kleine nukleäre RNA (snRNA), die einen der Bestandteile der so genannten Snurps (auch Spliceosomen bzw. deutsch Spleißosomen genannt) bildet. Snurps sind RNA-Protein-Komplexe, die in der Transkription eine besondere Rolle spielen: Genau genommen, entsteht nämlich durch Abschrift von der DNA zuerst nur eine Vorstufe der mRNA, Prä-mRNA oder auch heterogene nukleäre RNA (hnRNA) genannt. Erst durch die Snurps wird die hnRNA so aufbereitet, dass eine Translation erfolgen kann. Der Grund hierfür ist, dass Gene bekanntlich aus zwei Arten von Subsequenzen bestehen: aus Exons und Introns. Die hnRNA enthält noch die Introns. Diese sollen jedoch nicht übersetzt werden. Daher müssen sie aus der Prä-mRNA entfernt werden; hierfür sind die Snurps zuständig. Dieser Prozess wird auch als "Spleißen" bezeichnet. Warum es überhaupt Introns gibt, ist - wie vieles, das im Zuge der Evolution entstanden ist - nicht unbedingt rational zu begründen; Tatsache ist aber, dass manche Gene in unterschiedliche Proteine übersetzt werden können, je nachdem, welche Introns durch Spleißen entfernt werden.

Zwei weitere RNA-Gruppen mit speziellen Funktionen sind - abgesehen von den so genannten Ribozymen (Enzyme auf RNA-Basis) und einigen anderen - die kleine interferierende RNA (siRNA) und die Mikro-RNA (miRNA), für die Entdeckung welcher der Medizin-Nobelpreis des Jahres 2006 verliehen wurde. Alle diese Arten von RNA sind übrigens natürlich im Genom in Form von DNA kodiert, und die Umwandlung in RNA erfolgt, wie immer, durch Transkription.

Wie man mit RNA gezielt Gene "abschalten" kann

Bereits Anfang der 1990er Jahre war ein Phänomen namens "posttranskriptionelles Gen-Verstummen" (posttranscriptional gene silencing, PTGS) bekannt: Anscheinend war es durch das Einschleusen eines Gens in einen Organismus möglich, die Translation von Genen mit ähnlicher Sequenz zu unterbinden. Wie dieser Mechanismus genau funktionierte, war freilich noch ein Rätsel.

Dieses Rätsel wurde von den beiden diesjährigen Nobel-Laureaten gelöst: Sie fanden heraus, dass es sich um kleine, doppelsträngige (!) RNA-Moleküle von einer Länge von ungefähr 25 Nukleotiden handelt, welche die Translation von Genen mit einer ähnlichen (homologen) Sequenz verhindern können. Es handelt sich um die vorhin erwähnte siRNA.

Interessant ist, dass siRNA auch von den Organismen selbst synthetisiert wird; man nimmt an, dass es sich um einen Mechanismus handelt, um Virusinfektionen abzuwehren. Er dürfte vor allem in niederen Organismen eine Rolle spielen, die ohne ein hoch entwickeltes Interferon-System auszukommen haben. Da bereits eine geringe Menge siRNA ausreichend ist, um die Expression eines Gens vollständig zu verhindern, geht man davon aus, dass siRNA eine katalytische Funktion ausübt (es sich also nicht um ein stöchiometrisches Phänomen handelt, d.h. die Expression nicht etwa deshalb gehemmt würde, weil die siRNA in größeren Mengen als die mRNA vorläge und daher vom Translations-Apparat bevorzugt würde). Offenbar kommt es zu einem posttranskriptionellen Abbau der mRNA. Fire und Mello zufolge geht die siRNA dabei mit der mRNA eine Bindung (Basenpaarung) ein. Dabei komme es zur Formation eines großen Komplexes, der RISC (RNA-induced silencing complex) genannt wird. In diesem Komplex komme u.a. eine spezielle Endonuklease aus der "Argonaute"-Protein-Familie vor. Außerdem entdeckten sie eine Nuklease namens Dicer, welche längere doppelsträngige RNA-Ketten in einzelne siRNA-Moleküle zu spalten vermag.

Als miRNA bezeichnet man Moleküle, welche in einigen Organismen wie Würmern, Fliegen, Mäusen und auch Menschen gefunden wurden. Sie haben nicht nur dieselbe Funktion wie siRNA, sondern sind auch ähnlich groß.

Die Bedeutung dieser Entdeckung

Die Entdeckung der RNA-Interferenz und die Aufklärung des ihr zu Grunde liegenden Mechanismus hat für Molekularbiologie und Medizin verschiedene Konsequenzen. Für uns zukünftige Mediziner ist besonders die Frage interessant, inwiefern RNA-Interferenz auch in höheren Organismen eine Rolle bei der Abwehr von Viren spielen könnte; möglicherweise könnte sie einen neuen Ansatz für antivirale Therapie darstellen.

Besonders für Entwicklungsbiologen und Embryologien ist die Frage interessant, ob bzw. wie RNA-Interferenz bei der Entwicklung des Organismus zum Einsatz kommt.

Für Molekularbiologen und Genetiker stellt die RNA-Interferenz ein wunderbares Hilfsmittel dar, um die Funktion einzelner Gene zu erforschen, indem man die Expression bestimmter Gene unterdrückt und dann die Auswirkungen auf den Phänotyp beobachtet.

Schließlich könnte RNA-Interferenz auch für die Therapie genetischer Erkrankungen genutzt werden.

Fazit: Die RNA-Interferenz ist eine tolle Entdeckung, die sowohl Biologen als auch Medizinern viele neue Möglichkeiten eröffnet hat und es voll und ganz verdient hat, mit einem Nobelpreis belohnt zu werden!

Claus-Dieter Volko