Neue Wege der Physiologie:
Computermodellierung biologischer Systeme

In der biomedizinischen Forschung werden zunehmend Computermodelle eingesetzt. Schon heute können Zellen, Organe und Organsysteme im Rechner simuliert werden. Das langfristige Ziel: das Computermodell eines kompletten Menschen.

Denis Noble, 65, ist Leiter der Forschungsgruppe für kardiale Elektrophysiologie an der Universität von Oxford. Er steht einem interdisziplinären Team aus Medizinern, Biologen und Computerwissenschaftlern vor, das seit einigen Jahren an der Entwicklung von analytischen Modellen des menschlichen Herzen arbeitet. Die ersten Früchte dieser Arbeit wurden bereits geerntet: In einem ultraschnellen Supercomputer wird das Erregungsverhalten eines Herzen simuliert. Viele Differentialgleichungen müssen in Echtzeit gelöst werden, um ein möglichst realistisches EKG zu erzeugen.

Mit Hilfe dieses Modells wurden schon die Auswirkungen mehrerer Pharmaka auf das Herz getestet. Eines Tages könnten solche Computermodelle dazu führen, dass für die Erprobung neuer Medikamente weniger Tier- und Menschenversuche durchgeführt werden müssen.

Nobles Gruppe ist Teil eines größeren, internationalen Forschungsvorhaben: des Physiome Project. 1993 auf einem Physiologenkongress ins Leben gerufen, umfasst es nun mehrere Arbeitsgruppen an britischen, australischen und amerikanischen Universitäten, darunter neben Oxford die University of Auckland und die Johns Hopkins University School of Medicine. Derzeit beschäftigen sich die Forscher schwerpunktmäßig mit kardiovaskulären Fragestellungen. Aber auch andere Organe des Menschen, etwa die Lunge, die Niere oder das Gehirn, sollen durch Computermodelle simuliert werden.

Das Ziel des Physiome Project besteht darin, ein besseres Verständnis des menschlichen Organismus, seiner Physiologie und Pathophysiologie zu gewinnen und damit Wege zu finden, die Gesundheit der Menschen zu verbessern.

Der Begriff "Physiom" setzt sich aus den griechischen Silben "physio-" (Leben) und "-om" (als ein Ganzes) zusammen. Das Physiom wird als "quantitative und integrierte Beschreibung des funktionellen Verhaltens des physiologischen Zustands eines Individuums oder einer Art" definiert. Anders gesagt: Es handelt sich um ein Modell, das die Beziehungen zwischen Genom und Organismus sowie zwischen funktionellem Verhalten und Gen-Regulation mathematisch beschreibt. Um der Realität nahe zu kommen, müssen möglichst viele gesicherte Zusammenhänge in solche Modelle einfließen.

Die Computermodellierung hat bereits zu einigen überraschenden Erkenntnissen geführt. So hat etwa der japanische Bioinformatiker Masaru Tomita mit seinem Programm E-CELL einen einfachen einzelligen Organismus mit 127 Genen ähnlich Mycoplasma genitalium simuliert, der sich von Glucose ernährt. Als man ihm die Glucosezufuhr entzog, sank, wie erwartet, der ATP-Pegel. Doch kurz vor dem Absinken stieg er nochmals ein wenig an. Tomita vermutet, dass dies daran liegen könnte, dass die ersten Schritte des ATP-produzierenden Stoffwechselvorgangs (der Glykolyse) selbst etwas ATP verbrauchen. Der Glucose-Entzug führte also zunächst dazu, dass dieser Verbrauch nicht mehr stattfand. Inzwischen wurde jedoch die Glykolyse bereits vorhandener Glucose-Moleküle fortgesetzt, wodurch wieder etwas ATP entstand. Erst als keine Glykolyse mehr stattfinden konnte, sank der ATP-Pegel.

Freilich müssen solche in Computermodellen beobachteten Phänomene noch an lebenden Organismen überprüft werden, aber der Ansatz ist sehr interessant.

Die Computermodellierung biologischer Systeme ist jedenfalls ein spannendes Forschungsgebiet. Noch steckt sie in den Kinderschuhen. Aber wer weiß, wie sie sich entwickeln wird. Wird man eines Tages komplexe vielzellige Organismen wie den Menschen im Computer simulieren können? Wird es gar möglich sein, das Genom des virtuellen Organismus zu verändern, die Auswirkungen zu beobachten und daraus auf die realen Verhältnisse rückschließen zu können?

Man wird es sehen - oder vielleicht sogar aktiv miterleben.

Claus D. Volko